Ein praktischer Leitfaden, um herauszufinden, wer zuerst verhungert.
Ugo Bardi 12. Mai 2025
Der ehrwürdige Thomas Malthus ist einer der am meisten missverstandenen und verteufelten Autoren der Wissenschaftsgeschichte. Er ist ein gutes Beispiel für das Prinzip, dass auf lange Sicht alles, was man schreibt, missverstanden wird – und dass man für Dinge geschmäht wird, die man nie gesagt hat. Aber könnte es sein, dass Malthus Recht hatte, als er sagte, dass das Wachstum der menschlichen Bevölkerung auf der Erde nicht ewig weitergehen kann – wegen der Grenzen der Nahrungsmittelproduktion? Wenn dem so ist, könnte das Erreichen dieser Grenzen ziemlich unangenehme Folgen für viele von uns haben. Tut mir leid, dass dieser Beitrag ein wenig pessimistisch ist – vielleicht sogar sehr. Aber der Untertitel meines neuen Buchs Exterminations lautet „Vorbereitung auf das Undenkbare“, und genau darum geht es in diesem Beitrag.
Während ich an meinem neuen Buch The End of Population Growth (Das Ende des Bevölkerungswachstums) schreibe, beschäftige ich mich mit einigen ziemlich unangenehmen Themen. Die Frage, die ich mir stelle, lautet: Angenommen, das globale Wirtschaftssystem gerät ins Wanken – ausgelöst durch Kriege und finanzielle Konflikte – dann müsste jedes Land auf seine eigenen nationalen Ressourcen zur Nahrungsmittelproduktion zurückgreifen. Viele Länder haben ein Produktionsdefizit, und ihre Bürger können nur durch Importe ausreichend versorgt werden. Stellen Sie sich also einen katastrophalen Zusammenbruch des globalen Finanzsystems vor – ähnlich wie 2008, nur schlimmer. Wenn Importeure nicht zahlen können, wird Nahrung nicht dorthin gelangen, wo sie gebraucht wird; das meiste davon wird dort verrotten, wo es produziert wurde. Genau das geschah während der irischen Hungersnot, die 1846 begann: Es gab Nahrung auf dem Weltmarkt, aber die Iren hatten kein Geld, um sie zu kaufen – also verhungerten Millionen.
Wenn so etwas heute passieren würde – wer würde als Erstes verhungern?
Diese Frage ist schwer zu beantworten, denn die meisten Daten, die auf verschiedenen Plattformen zum Thema Lebensmittelimport/-export veröffentlicht werden, basieren auf Geldwerten oder Gewichtseinheiten und berücksichtigen nicht den Kaloriengehalt der jeweiligen Nahrungsmittel. Man könnte zum Beispiel denken, dass Italien einen Überschuss an Nahrungsmitteln hat, weil es Wein und andere teure Agrarprodukte exportiert, was zu einer positiven Handelsbilanz führt. Aber natürlich hätte selbst Marie Antoinette nicht gesagt, dass die Leute Beaujolais trinken sollen, wenn sie kein Brot haben (übrigens: Sie hat den Satz über Brot und Kuchen nie gesagt – genau wie Malthus wurde sie für etwas beschuldigt, das sie nie geäußert hat!).
Also bat ich meinen guten Freund Grok 3, die Daten zu durchforsten und Exporte sowie Importe in Kalorien umzurechnen. Auch das ist nur eine grobe Abschätzung, denn Menschen leben nicht nur von Kalorien – sie brauchen auch nährstoffreiche Nahrung. Aber Geld kann man eben nicht essen, also eignet sich diese Analyse als erster Annäherungsversuch.
Grok erstellte diese Tabelle auf Basis der FAO-Handelsstatistiken und vernünftiger kalorischer Schätzungen, basierend auf den Volumen der Handelsgüter und ihren durchschnittlichen Kaloriendichten (z. B. Getreide mit ~3.300 kcal/kg, Sojabohnen mit ~350 kcal/kg). Nicht-Lebensmittel wie Wein und andere wurden dabei ausgeschlossen. Es handelt sich um grobe Schätzungen, keine offiziellen Zahlen, und sie gelten für eine Stichprobe ausgewählter Länder. Falls Sie Daten für andere Länder brauchen, kann Grok dieselbe Arbeit auch dafür erledigen. Andere KIs können das sicherlich ebenfalls.
Negative Netto-Kalorienwerte deuten auf ein Kaloriendefizit hin. Man muss bedenken, dass Menschen normalerweise etwa 2500–3000 kcal pro Tag zu sich nehmen (in den USA oft noch mehr), und dass 2000 kcal pro Tag allgemein als untere Grenze dessen gelten, was der Mensch täglich an Nahrung braucht. Wenn Japan also ein Handelsdefizit von fast 1300 kcal pro Person aufweist, bedeutet das, dass bei einer Unterbrechung des Lebensmittelhandels jeder japanische Bürger etwa die Hälfte seiner Kalorienzufuhr verlieren würde. Deutlich gesagt: Japans Kaloriendefizit könnte für einen großen Teil der Bevölkerung zu einer schweren Nahrungsmittelkrise führen – ein Szenario, das dem Irland des 19. Jahrhunderts nicht unähnlich ist. Die Lage sieht auch für viele Länder Westeuropas nicht gut aus – wenn auch nicht ganz so dramatisch. Insgesamt könnten die Menschen in den EU-Staaten ausreichend versorgt sein, wenn sie die europäische Nahrungsmittelproduktion solidarisch untereinander aufteilen würden. Aber würden sie das wirklich tun? Eine interessante Frage …
Im Gegensatz dazu stehen Brasilien, die USA und Russland sehr gut da – mit einem deutlichen Überschuss an Kalorienproduktion. Überraschenderweise hat sogar Indien eine positive Bilanz, trotz seiner großen Bevölkerung und seines Rufs als Land, in dem es häufig zu Hungersnöten kommt. Das ist das Wunder der Grünen Revolution – mit ihren Düngemitteln, Pestiziden, Gentechnik und Ähnlichem.
Die Tabelle ist ein guter Hinweis darauf, dass manche Regionen der Welt ihre nationale Nahrungsmittelproduktion vernachlässigt haben. Das bringt ihre Bürger in Gefahr. In einer schwierigen Zeit wie der heutigen stellt das eine fragile Lage dar, die ein ernsthaftes Risiko für Hungersnöte bedeutet. Zölle sind derzeit wieder in Mode. Sie betreffen bisher nicht den Handel mit Lebensmitteln – aber wenn das der Fall wäre, könnten sie schnell zu einer Waffe der Massenvernichtung werden.
Doch das ist nur ein Teilaspekt der Situation. Wie allgemein bekannt ist, besteht die moderne industrielle Landwirtschaft im Wesentlichen darin, fossile Energieträger in Nahrung zu verwandeln. In einem Szenario, in dem das globalisierte Handelssystem zusammenbricht, wären fossile Brennstoffe für jene Länder nicht mehr verfügbar, die sie nicht selbst produzieren. Die Landwirtschaft ist einer der am stärksten von fossilen Brennstoffen abhängigen Wirtschaftszweige. Ohne Dünger, Pestizide und mechanische Energie für Bewässerung, Kühlung, Transport und mehr kann die moderne Landwirtschaft nahezu nichts produzieren.
Im Falle eines globalen Zusammenbruchs des Finanzsystems würde ein Land, das vollständig auf fossile Energieimporte angewiesen ist, einen drastischen Rückgang seiner nationalen Nahrungsmittelproduktion erleben. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie abhängig einzelne Länder von fossilen Energieimporten sind, folgt hier eine Tabelle mit dem Parameter „Fossile Energie-Unabhängigkeit“ (Fossil Fuel Independence, FFI). Er ergibt sich als Verhältnis der nationalen Produktion zur Summe aus nationaler Produktion und Importen. Ein FFI-Wert von 1 bedeutet vollständige Unabhängigkeit, ein Wert von 0 zeigt an, dass das Land alles, was es verbraucht, importiert.
Natürlich muss man all das mit großer Vorsicht betrachten. Es sind viele unterschiedliche Szenarien denkbar, und der Schock könnte abgeschwächt werden, wenn er nicht allzu abrupt eintritt. Aber die Tabellen geben zumindest einen Eindruck davon, wie die Lage derzeit aussieht.
Wenn Sie über Auswanderung nachgedacht haben, dann scheint Russland im Hinblick auf das Überleben die beste Wahl für Sie und Ihre Familie zu sein. Japan ist die schlechteste, während die USA nach wie vor das Land der Chancen bleiben – im Guten wie im Schlechten. Auch China sollte man in Betracht ziehen, denn dort wird mit großem Einsatz daran gearbeitet, sich von fossilen Brennstoffen zu lösen – und es gelingt ihnen. Außerdem verfügen sie über eine technologische Macht, die kein anderes Land besitzt. Schließlich – geprägt vom Konfuzianismus – tendieren sie zur Wohltätigkeit und werden zumindest versuchen, ihre Bürger vor dem Verhungern zu bewahren. Auch Äthiopien würde ich eine Chance geben: Sie haben viele Probleme, aber sie haben zumindest verstanden, dass sie sich von fossilen Brennstoffen befreien müssen. Es ist das einzige Land der Welt, das per Gesetz den Verkauf von Autos mit Verbrennungsmotoren verbietet. Westeuropa ist möglicherweise der schlechteste Ort der Welt in Bezug auf Überlebenschancen. Die Bevölkerungsdichte ist dort zwar nicht so hoch wie in anderen Regionen. Doch statt daran zu arbeiten, ihre Ernährungssouveränität zu stärken, planen sie, die wenigen verbleibenden Ressourcen in einen gigantischen militärischen Ausbau zu investieren. Das könnte ihre Wirtschaft endgültig zerstören – ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf die Lebensmittelversorgung.
Es gibt kein perfektes Land zum Leben – aber das war schon immer so, seit es das gibt, was wir „Zivilisation“ nennen: ein Ort, der stets mit Risiken behaftet ist. In meinem Buch Exterminations untersuche ich verschiedene historische Ereignisse, die in kurzer Zeit zum Tod großer Menschenmengen führten. Hungersnöte gehören zu den Faktoren, die dazu führen können – das ist in der Vergangenheit oft geschehen, und es könnte auch in der Zukunft wieder geschehen.
Dieses Post ist die Übersetzung eines Blogposts von Ugo Bardi auf seinem Blog Seneca Effect. Er erscheint mit freundlicher Genehmigung von Ugo Bardi. Wenn es Euch gefällt, könnt ihr ihm hier einen Kaffee kaufen.